Anthroposophische Paranoia

Zu älteren Artikeln trudeln immer wieder Kommentare ein. Die werden genehmigt, bei Lust und Zeit beantwortet und stehen dann, zumeist wahrscheinlich ungelesen, unter dem jeweiligen Artikel. Aktuell kam einer rein, dessen Thema in vielen anderen Kommentaren mitschwingt aber meist nicht so deutlich ausgesprochen wird. Zu einem Text über Masern, Anthroposophie und Rudolf Steiner wurde folgender Kommentar abgesetzt:

„Es scheinen hier viele Menschen unterwegs zu sein, die die Freiheit des Andersdenkenden und -handelnden nicht akzeptieren können. Durch solche Geisteshaltung wird der Boden bereitet für Vereinheitlichung, Gleichschaltung und Mißtrauen, wo das hinführt können wir in Geschichte und Gegenwart nachlesen. Vor der Kritik steht die Selbstkritik, d.h. erstmal in den Spiegel schauen oder vor der eigenen Hütte kehren, think about it…Und Texte sollten immer im zeitlichen Kontext betrachtet werden, sonst wird`s unsauber.“

Das ist doch eine schöne Gesprächseinladung, und was den impliziten Vorwurf zum geplanten Massenmord angeht will ich mal nicht kleinlich sein.

Natürlich kann ich „die Freiheit des Andersdenkenden und -handelnden“, akzeptieren. Allerdings mache ich einen Unterschied zwischen „Denken“ und „Handeln“, wegen der unterschiedlichen Konsequenzen auf mein Leben. Ich nehme mir darum die Freiheit, Menschen zu kritisieren, die Entscheidungen auf Basis der Wahnideen eines vor fast 90 Jahren verstorbenen Goethespezialisten treffen. Die Freiheit des Einen hört dort auf, wo die Freiheit des Anderen anfängt, das lernt man schon in der Schule (zumindest in der staatlichen Materialistenschule, die ich besucht habe). Wenn Eltern ihr Kind nicht gegen Masern impfen, weil ein Steiner vor den karmischen Folgen warnt, ist das deren Entscheidung. Wenn diese Eltern aber ihr Kind mit anderen Kinder in den Kindergarten schicken wollen, möchte ich sicher gehen, dass diese nicht die Folgen solch irrationalen Verhaltens tragen müssen.

Ich finde, man kann den Besuch von öffentlichen Kindergärten und Schulen an einen vollständigen Impfstatus knüpfen. Es gibt demokratische Staaten in denen das normal ist (oder war, aber das ist ein anderes Thema).

Mich stört auch weniger, dass andere anders denken oder handeln als ich. Mich stört, dass sie ihre Motivation nicht offen legen. Wissenschaftlich ist an der Wirksamkeit und Sicherheit der Masern-Mumps-Röteln-Impfung nichts zu rütteln. Wer gegen diese Impfung ist, muss auch gegen sauberes Trinkwasser sein, mit fast derselben Argumentation. Trotzdem führt die Vereinigung Anthroposophischer ÄrztInnen eine Sammlung von Fällen an, in Masern ganz toll gewesen sein sollen und meint, damit große epidemiologische Studien entwerten zu können. Motiviert ist man dabei von den „Schauungen“ eines Herrn Steiner. Das ist so, als würden Ärzte entscheiden, ob sich eine weitere Therapie bei einem Patienten lohnt, nachdem sie sich dessen „Lebenslinie“ auf der Hand angesehen haben. Die Damen und Herren Anthroposophenärzte könnten einfach schreiben:

„Vorsicht, die Masernimpfung birgt Risiken für die Leibausbildung und kann zu bleibenden Karmaschäden führen.“

Dann wüssten alle, woran sie sind und worum es geht. Es geht um die Glaubensinhalte einer Religionsgemeinschaft. Solange diese Religionsgemeinschaft ihr Wissenschaftskabarett aufführt, wird sie dafür kritisiert.

[Bild: Frühe Selbstschauung aus den Akashachroniken. Auf der bei Wikipedia vorgehaltenen Version wurden Störsignale, Aura und Astralbart retuschiert]

[Edit 14.06.2013: Wenn ich an „Schicksal“ glaubte… In Berlin wird vor einer Masernepidemie gewarnt und in NRW ist ein 14 jähriger an den Spätfolgen von Masern gestorben.]

11 Gedanken zu “Anthroposophische Paranoia

  1. „Wenn diese Eltern aber ihr Kind mit anderen Kinder in den Kindergarten schicken wollen, möchte ich sicher gehen, dass diese nicht die Folgen solch irrationalen Verhaltens tragen müssen.“

    Das verstehe ich nicht!

    Wenn es in einem Kindergarten tatsächlich nur diese zwei Gruppen gibt, die der geimpften und die der ungeimpften Kinder… wo ist dann das „Problem“? Bleiben/sind geimpfte Kinder denn durch die Impfung nicht immun gegen z.B. Masern? Welche Folgen sind also zu tragen?

    Wo ist ggf. mein Denkfehler?

    1. Nein, kein Denkfehler, vermute ich zumindest. Aber vielleicht unvollständige Information: Ein Impfung schützt vor Masern. Aber nicht zu 100% Masern ist eine hochinfektiöse Erkrankung und je öfter ein Geimpfter damit in Kontakt kommt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie doch noch Masern bekommt. Oft ist der Verlauf dann milder. Aber Geschwister können die Infektion mit nach Hause bringen und dort ungeimpfte Geschwister anstecken. Masern-Mumps-Röteln wird erst am Ende des ersten Lebensjahres geimpft, bis dahin sind Kinder darauf angewiesen durch Herdenimmunität geschützt zu werden.
      Das hört sich vielleicht etwas theoretisch an, doch es gibt Fälle, in denen Kinder durch solche Kausalketten gestorben sind.
      Auch in Kinderarztpraxen haben sich schon Kinder angesteckt und schwere Schäden davongetragen.
      Es gibt immer wieder Ausbrüche rund um Waldorfschulen und Kindergärten, die auch Menschen in Mitleidenschaft ziehen, die der anthroposphischen Weltanschauung nicht nahe stehen.
      Beantwortet das die Frage?

  2. Danke, das erklärt Einiges, wirft bei mir aber die Frage auf, inwieweit Kindergärten, KiTas oder gar Tagesmütter/-väter in staatlicher, kirchlicher oder sonstiger Trägerschaft jeweils Impfbescheinigungen von den Eltern verlangen können. Wird mit dieser Forderung nicht das inzwischen gesetzlich festgeschriebene Recht auf einen Krippenplatz unterlaufen/konterkariert?

    Wo könnte/sollte denn eine Grenze gezogen werden? Bei welchen Krankheiten, gegen die es „wirksame“ Impfungen gibt, soll ggf. ein kurzzeitiges „Hausverbot“ ausgesprochen werden?

    Wie weit wäre es noch hin bis zu einer „Gesinnungsprüfung“ der Eltern? Wann folgt eine Zwangsimpfung aufgrund der Empfehlungen der Pharmaindustrie? >Polemik Ende<

    Gruß Fidel

    P.S. Ich wurde bzw. bin übrigens – wie auch mein Sohn – sowohl gegen Masern, als auch Kinderlähmung geimpft und zähle mich nicht zu den Impfgegnern.

    1. Letztlich ist das eine politische und keine wissenschaftliche Frage. Das müssen wir als Gesellschaft entscheiden. Wissenschaft kann nur die Argumente liefern, nicht die Entscheidung treffen.
      Orientieren würde ich mich an den Empfehlungen der Stiko und den Übertragungsweg der Erkrankung. So könnte die Tetanus-Impfung ausgenommen werden, weil Tetanus nicht von Mensch zu Mensch übertragen wird (darauf verzichten allerdings nur die allerwenigsten ;))

      Zu Empfehlungen der Hersteller wäre einiges zu sagen, das ist ein eigenes Thema.

      Ich wurde übrigens nicht gegen Masern geimpft und genieße meine natürlich erworbene Immunität in vollen Zügen ;-)

  3. Andreas Lichte hat fast alles was Anthropsosphie und NS gesagt, vielleicht fehlt nur mehr eines,
    bis heute wird der Mist, der zu Nazis und Co führt noch immer von den so fortschrittlichen Waldörfern geleeehrt.

  4. „Entscheidungen auf Basis der Wahnideen eines vor fast 90 Jahren verstorbenen Goethespezialisten“ – schön gesagt. Mit dem, was der Goethespezialist übers Impfen gesagt hat und was seine Jünger 100 Jahre später daraus ableiten und warum das nicht nur ärgerlich, sondern auch gefährlich ist, habe ich jüngst auch ein wenig gebloggt und erlaube mir den Link hier zu posten: http://buggisch.wordpress.com/2013/07/22/warum-noch-immer-kinder-an-masern-sterben/

  5. Mein Kind geht in einen Waldorf Kindergarten und ist komplett durchgängig geimpft.Genau so wie die Mehrheit der Kindergarten Kinder dort.
    Das eine schließt das andere nicht aus und nicht jeder Mensch der Waldorf Einrichtungen gerne nutzt, ist ein Anthroposoph :-)

    1. Herzlichen Glückwunsch zu der Entscheidung. Ich hoffe, mit „durchgängig“ sind die Empfehlungen der STIKO gemeint und nicht die der anthroposophischen Ärzte.

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