Ein Wiki und sein Shitstorm

Nach einer Pharmafirma nun ein Rockstar; Netz und Abmahnunwesen in Italien

Die Seite heißt Nonciclopedia und ist das italienische Pendant zu Uncyclopedia (u.a. auf Englisch und Deutsch) oder Stupidedia (Deutsch). Ihr Markenzeichen sind Satire und Parodie zu rund 12.000 Schlagwörtern auf über 120.000 Seiten. Schlagworte sind natürlich auch Namen und wie so etwas aussieht, ist etwa zu „Cannabinoid Destillation Unit (CDU)“ nachzulesen oder zu „Verona Feldpooth“. Auf Nonciclopedia geht das derzeit nicht. Sie ist seit gestern in einen unbefristeten Streik getreten und hat alle Inhalte bis auf ihre Streikseite unsichtbar gemacht.

Der Grund heißt (Achtung Schlagwort): Vasco Rossi und ist ein ziemlich bekannter Musiker, Sänger und Somgschreiber. In Italien war er das erste Eigengewächs, das es ab Ende der 1980er geschafft hatte, ganze Fußballstadien zu füllen. In Imola beim Heineken Jammin‘ Festival 1998 trat er vor 130.000 Zuschauern auf. Bei einem Gratiskonzert im September 2004 waren es 400.000. Legendär aber auch sein Drogenkonsum, weswegen er schon im Gefängnis saß. Sein letzter Exploit in der Hinsicht war ein Eintrag auf seiner facebook-Präsenz (2,6 Millionen likes) vom 18. September, als er das Verhältnis von Drogen- und Alkoholkonsum zum Straßenverkehr mit ganz eigenem Zungenschlag zur Diskussion stellte: „Ich will hier nicht behaupten, dass es ein guter Einfall sei, sich etwas angeschickert ans Steuer zu setzen, aber versuchen, etwas besser darüber nachzudenken … In Wahrheit haben Unfälle und Unglücke leider oft keinen rationalen Grund, sie sind konstitutiver Teil des Lebens, im Paket der Existenz mit inbegriffen: Sie geschehen und Ende!

Aber nicht wegen dieses Eintrages wurde Rossi Ziel von Nonciclopedia, zumindest nicht zeitlich. Die Geschichte, wie sie die Autoren auf der einzig übrig gebliebenen Seite („Dienstunterbrechung“) erzählen:

„Gehen wir zurück in der Geschichte, um die Sache besser zu erklären:

  • 6000 v.Chr.: Der Mensch bearbeitet Eisen.
  • 3200 v.Chr.: Der Mensch erfindet die Schrift.
  • 7. Februar 1952: Vasco Rossi wird geboren.
  • 20. April 1984: Vasco Rossi wird im Variety festgenommen, einer Diskothek in Bologna. Vasco Rossi übergibt den Ordnungskräften spontan 26 Gramm Kokain und verbringt 22 Tage in Haft. (Anm.: Fußnote verweist auf einen Artikel der Tageszeitung La Repubblica)
  • Danach: Vasco macht weiteren Scheißsachen, das im Einzelnen aufzuzählen ödet uns an, es sind zu viele. (Anm.: Fußnote verweist auf entsprechenden Eintrag bei wikipedia)
  • Januar 2010: Der Anwalt von Vasco Rossi oder wer auch immer liest die entsprechende Seite auf Nonciclopedia und ihm wird klar, dass der ganze Haufen Mist das Ende des Rockstars bedeuten könnte.

Achtung: Was in dieser Box geschrieben steht, ist eine plausible Rekonstruktion der Ereignisse … aber denkt daran, dass die Wirklichkeit die Phantasie überholen könnte

  • 1. Februar 2010, 12:00 Uhr: Der Anwalt setzt Vasco von der Existenz der Seite auf Nonciclopedia in Kenntnis.
  • 1. Februar 2010, 12:03 Uhr: Der Anwalt erklärt Vasco, was Nonciclopedia ist.
  • 1. Februar 2010, 12:07 Uhr: Der Anwalt erklärt Vasco, was Internet ist.
  • 1. Februar 2010, 12:12 Uhr: Der Anwalt antwortet Vasco, dass „Nein, ich habe nichts zum anzünden“.
  • 1. Februar 2010, 12:13 Uhr: Der Anwalt erklärt Vasco, was ein Computer ist.
  • 1. Februar 2010, 12:15 Uhr: Der Anwalt holt weit aus und beginnt bei:
    • 4000 v.Chr.: Der Mensch erfindet die Schrift.
  • 1. Februar 2010, 19:00 Uhr: Vasco und der Anwalt telefonieren noch immer.
  • 1. Februar 2010, 19:02 Uhr: Der Sache müde, legt der Anwalt mit der Bemerkung auf, er werde sich darum kümmern.“

Im Februar vergangenen Jahres also erhielten die Admins von Nonciclopedia eine Abmahnmail des Anwaltes, der angeblich auch ein entsprechendes Einschreiben/ Rückschein an Wikia in die U.S.A. gesandt hatte, die Inhalte zu Vasco Rossi zu löschen. Nachdem die Nonciclopedisten zwei Mal mit Lesebestätigung geantwortet und keine weitere Rückäußerungen erhalten hatten (Wikia weiß bis heute nichts von einem Brief), gingen sie von einem der vielen Einschüchterungsversuche oder Versuchsballone aus. Bis am 18. August diesen Jahres der Chefadmin der Seite zur Polizei zitiert wird, um die Funktionsweise der Plattform zu erklären. Er wird „um ein Autogramm gebeten, unter ein Protokoll“. Im September werden weitere 3 Admins der gleichen Prozedur unterzogen.

Wie du mir …

Nun ist das gesamte Team in Streik getreten und hat sämtliche Inhalte gesperrt, bis die Sache geklärt ist. Nach dem Tam-Tam um Samuele Riva und der Pharmafirma Boiron, die versucht hatte, diese kritische Stimme zum Schweigen zu bringen und prompt in den Streisand-Effekt lief, ist es nun einer der populärsten Musiker Italiens, der einen regelrechten Shit-Storm entfacht hat. Denn nicht nur alle großen Tageszeitungen in Italien berichten darüber. Das Netz selbst überschlägt sich in Stellungnahmen, die allerdings wegen der ohnehin rüden Sprache des Sängers auch nicht gerade zimperlich daherkommen. Der Tenor: Warum hält einer, der ein Leben lang ausgeteilt hat, ein wenig Satire nicht aus?!

Innerhalb von 24 Stunden hat Vasco Rossi 3 Beiträge auf facebook zur Rechtfertigung veröffentlicht, die zur Stunde 25.000 Kommentare generiert haben: „Scheinheilig“ ist auf Seiten der Kritiker noch das freundlichste Attribut, die Fans des Künstlers halten ebenso hart dagegen. Und seitdem gestern auf facebook die Seite „Salviamo Nonciclopedia“ (Retten wir Nonciclopedia) aufgesetzt wurde, hat sie 164.000 likes erhalten – die Gemeinde zählt dort fleißig mit, wie viele Fans Rossi den Rücken zukehren.

Bizarr ist die Sache insofern, als der Text, auf den sich das Tätigwerden der Polizei bezogen hat, mehr als ein Jahr im Netz gestanden hat, ohne dass sich auch nur ein Blatt im Wind bewegt hätte. Nun ist er gar nicht mehr einsehbar, aus eigener Entscheidung der Verfasser. Auch hat sich von der Betroffenenseite außer mit der ursprünglichen Mail niemand mit den Admins von Nonciclopedia in Verbindung gesetzt. Die Parallelen zu Samuele Riva sind unverkennbar: Die völlige Unterschätzung der potentiellen Lawine, die losgetreten wird, wenn statt Kommunikation eben nur Abmahnungen und dann Behörden ins Spiel kommen. In Deutschland lässt sich die Unfähigkeit von Miteinander aus Unkenntnis der Mechanismen des Netzes ohne weiteres bei Gutjahrs Erfahrungen mit der Post („Die Gelbe Gefahr“) ablesen.

Ob Vasco Rossi das überhaupt noch einschätzen kann, steht auf einem anderen Blatt. Kurz nach einem Krankenhausaufenthalt hatte er angekündigt, seine große Tournee 2011fort zu setzen, nur um wenige Tage später diese ganz abzusagen und wieder ins Krankenhaus einzurücken. „Nein, ich habe keinen Tumor, nur ein Killerbakterium“. Und dann die Eröffnung am 21. September auf facebook, seine Karriere beenden zu wollen. Vielleicht hat er der alte Rock’n Roller jetzt mehr Zeit zu verstehen, dass das Netz nicht nur (s)ein Werbeträger ist. e2m

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