Daumenschrauben

Wissen ohne Kenntnis

 

Hätte Jakob Augstein den Freitag nicht gekauft, hätte ich vermutlich nie oder erst sehr spät vom ihm gehört. Wahrscheinlich zu spät. Doch so habe ich die ersten Ausgaben im alten Design und, wie mir heute scheint, Stil, gelesen. Mit jeder neuen Ausgabe wird mir klarer, dass ich vielleicht konservativer bin als ich dachte, denn mehr und mehr wünsche ich mir das alte Blatt zurück.

Vor zwei Jahren hätte ich vielleicht noch von Schicksal gesprochen. Da mich das Konzept jedoch bei näherer Betrachtung nicht mehr überzeugt, sage ich heute, es war ein glücklicher Zufall, der mich den Artikel bei Telepolis hat lesen lassen, in dem von Jakob Augsteins Plänen für diese kleine Zeitung aus dem Osten berichtet wurde. Und von der Community. Ich meldete mich am ersten Tag an und begann zu kommentieren und zu bloggen.

Und ich begann kennenzulernen. Ich habe hier Freunde gewonnen (und einige wieder verloren), die ich nicht mehr missen will, und bei den meisten hatte ich das Glück, sie auch in „Echt“ getroffen zu haben. Bei vielen wird sich das hoffentlich wiederholen. In der Anfangszeit hätte ich noch unbeschwerter über die Veränderungen geschrieben, die durch die Begegnungen in der Community in meinem Leben eingetreten sind, bin jedoch vorsichtiger geworden. Denn, man glaubt es kaum, es gibt Menschen, die sammeln diese Informationen und nutzen sie auf garstige Weise.

Vermutlich glaubt mir das kaum einer, doch die Lektüre des Telepolis-Artikels und alles, was folgte, hatten einen entscheidenden Einfluss auf meinen aktuellen Wohnort im Osten der Republik und vielleicht sogar meine Tätigkeit. Auf jeden Fall jedoch auf meine Art, die Welt zu sehen, aber das ist eine andere Geschichte.

Ich schreibe diese lang und weilige Einleitung, um zu zeigen, dass ich mich durchaus als Teil des Projekts „der Freitag“ begreife und mich diesem emotional verbunden fühle. Das mag man albern oder naiv finden, für mich ist es normal geworden. Und ein Problem, denn wenn ich im Printteil dieses Projekts Artikel finde, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt sind, sehe ich das nicht so nüchtern, wie ich das sollte. Is halt so.

Mitte Juni erschien ein Artikel der Ressortleiterin Politik, Frau Schmitt-Roschmann, mit dem Titel „Arme Schlucker“. Der Artikel war inhaltlich schlecht, Frau Schmitt-Roschmann hat sich mit zu vielen Themen verzettelt und einiges war schlicht falsch dargestellt. In einem Kommentar wies ich auf einiges hin, eine Antwort blieb aus, eine Korrektur somit auch. Offenbar ist eine starke Meinung wichtiger als eine Faktenbasis, auf der diese beruht. Ich fragte mich ernsthaft, wie es sich bei Themen verhält, von denen ich weniger weiß, und das sind die meisten (Politik zum Beispiel). Gelegentlich fühlte ich mich an „mh“ erinnert, der fundiert (wie mir schien) Artikel zu Wirtschaftsthemen kritisierte. Da ist vermutlich auch wenig passiert.

Als ich vor langer Zeit eine Blattkritik machte, freute sich Jörn Kabisch, wenn ich mich richtig erinnere, darüber, dass ich den Freitag als Printprodukt kennengelernt hatte und so zum Online-Projekt gekommen war. Und obwohl ich seit Ende letzten Jahres nur noch sporadisch dazu kam, die Zeitung durchzublättern, und mehr und mehr an diversen portablen Geräten lese, hatte ich den „Printfreitag“ weiter abonniert. Wegen des Projekts, einer naiven und ungerichteten Solidarität und meiner emotionalen Verbundenheit.

Heute morgen saßen der weibliche Mensch an meiner Seite und ich an unserem bürgerlichen Frühstückstisch und sie las „Unterbrechung im Gehirn„, das aktuelle Machwerk auf der „Wissen“-Seite des Freitag. Wie ich Anhängerin einer evidenzbasierten Medizin, blieb ihr das Brötchen im Halse stecken und mir nichts anderes übrig, als ein Heimlich-Manöver durchzuführen (sie lebt). Der Artikel ist unterirdisch. Gibt es, frage ich mich nun, eigentlich eine redaktionelle Kontrolle, bevor Artikel über medizinische Themen in den Druck gegeben werden?

Kritik an der Medizin und an der Psychiatrie ist richtig und wichtig, aber mangelnde Kenntnis, gepaart mit starker Meinung und ein paar Zitaten, sind gefährlich. In der Psychiatrie, so könnte man meinen, werden alle Menschen „ruhiggestellt“ und „entmündigt“ und von wem: Von den Ärzten, denn „die Ausbildung zum Irrenarzt ist identisch mit der Ausbildung zum Folterer“. Das hört sich nicht nach fundierter Kritik, sondern nach Scientology an, auch ganz große „Psychiatriekritiker“.

Apropos fundiert. Seinen Mangel an Realitätsbezug zeigt der Autor Helmut Höge durch saftige Äußerungen wie:

„Das Online-Wohlfühlparadies für Hypochonder und solche, die es werden wollen –„paradisi.de“ – behauptete kürzlich: „Bei einer Schizophrenie helfen Medikamente noch immer am besten.“ Das Portal berief sich auf eine „aktuelle Meta-Studie“, für die Daten von 6.000 Betroffenen ausgewertet wurden.“

Eine durch eine Metaanalyse untermauerte Behauptung ist, wenn und solange es nicht gewichtige Gegenargumente gibt, ein Fakt. Und eine Behauptung ist kein gewichtiges Gegenargument, nicht mal, wenn sie in einem Meinungsmedium steht.

Was Herr Höge am Ende zur Elektrokrampftherapie schreibt, schließt dann den Bogen zu den zu Folterern ausgebildeten Ärzten:

„Diese einst als Folter begriffene Behandlung von Irren erlebt in Deutschland nun als verfeinerte „Elektrokrampftherapie“ (EKT) eine neue Konjunktur unter Nervenärzten, obwohl man bis heute nicht weiß, was der Strom im Gehirn eigentlich bewirkt. Die Süddeutsche Zeitung meldete im August: „Die Fachgesellschaften sprechen sich dafür aus, die EKT künftig nicht mehr nur als Ultima Ratio, sondern früher im Behandlungsverlauf einzusetzen.“

Kein Wort zur Durchführung (der Patient hat eine Vollnarkose) oder worauf sich das Wort „Krampf“ bezieht. Dabei geht es nämlich um eine bestimmte Aktivität von Nervenzellen im Gehirn, nicht um krampfende Muskeln, der Patient liegt still (–>Narkose). Eine solche EKT durchzuführen kann natürlich nichts mit ihrem potentiellen Nutzen zu tun haben, sondern mit dem diabolischen Bedürfnis der Ärzte zu foltern.

Geht’s eigentlich noch?

Für mich wird es Zeit. Jakob Augstein sagt gerne und oft, mit dem Print werde Geld verdient, und da ich mein Abo nun kündigen werde, ist „merdeister“ wohl ab sofort ein Verlustgeschäft.

6 Gedanken zu “Wissen ohne Kenntnis

  1. Auf der einen Seite verstehe ich die Aufregung über die Zustände, auf der anderen Seite verstehe ich die Emotionalität nicht. Das fällt mir übrigens auch bei anderen Produkten schwer, die „Fans“ haben. Davon abgesehen aber bin ich der Auffassung, dass die Erwartungen an den Freitag zu hoch sind. Er ist eben kein Wissenschafts- sondern (ausdrücklich) ein Meinungsmagazin und diesen Auftrag erfüllt es, Meinungen werden abgedruckt und online zugelassen. Ich weiß nicht, wie viele Texte schon zum Meinungsbildungsprozess beim Freitag verfasst wurden – es waren wohl eine Menge, auch von mir. Und auch meine Meinung zum Meinungsmagazin hätte ich mir im Grunde verkneifen können und auch sollen. Meinungen, auch krude, muss man einfach aushalten. Sie sind in einem Magazin – neben mehr oder weniger „linientreuen“ Artikeln auch nicht zu vermeiden. Mir ist zudem kein Blatt bekannt, dem ich zu 100% beipflichten würde/könnte. Was ich dem Freitag allerdings nach wie vor (trotz seiner eklatanten Fehler in der Berichterstattung) zugstehe, ist, dass er relativ unabhängig ist, eine Seltenheit in unserer oligarchischen Medienlandschaft. Davon abgesehen kann man ein Abo zwar kündigen – eine Reaktion darauf, eine Echte, wird es sicher nicht geben. Kunden kommen, Kunden gehen. Da verhält es sich bei Zeitungen wie im Supermarkt um die Ecke.

    1. Sicher, die Erwartungen sind zu hoch und die Emotionalität nur schwer nachvollziehbar, das sehe ich ein. Mir ist auch klar, dass der Freitag einerseits nur ein Produkt ist und Geld verdienen muss. Anderseits ist er mehr oder verspricht zumindest mehr zu sein, ob das nun mehr Marketing als Marketing ist oder nicht. Mich hat man damit gefangen und nun hänge ich halt drin. Ich neige zur Überinvolviertheit, das mag eine Schwäche sein, ich behalte sie trotzdem.

      Ich habe bereits beim Freitag versucht, dass es mir nicht darum geht, nur meine Meinung hören zu wollen. Es gibt häufiger Artikel die mir nicht gefallen. Meist blogge ich nicht darüber und bisher hatte ich noch nie wegen eines solchen Artikels das Bedürfnis mein Abo zu kündigen (ich rudere ja bereits langsam zurück und die „Vernunft“ gewinnt wieder Oberhand). Auch der „Arme Schlucker“ Artikel war vor allem ärgerlich und das vermutlich auch nur für Leute, die im Thema stecken…so wie ich. Aber dieser Antipsychiatrie-Artikel war ein Griff ins Klo und ich halte ihn für ein ideologisches Pamphlet gegen die Psychiatrie und alle die darin arbeiten („Folterer“). Und er böte Stoff für drei interessante Artikel in derselben Länge, die Zustände in der Psychiatrie wirklich kritisch beleuchtet hätten.

      1. Die Sache mit der Überinvolviertheit kenne ich durchaus und ich kann sie auch nachvollziehen – gerade dann, wenn man ein Portal (oder was auch immer) entdeckt hat, was mehr Potenzial bietet, was beim Freitag (immer noch) durchaus der Fall ist. Dafür – im Gegensatz zu geschlosseneren Systemen – ergeben sich aber eben andere Probleme und eines davon sind derlei Artikel, bzw. deren Qualität. Hinzu gesellt sich – denke ich jedenfalls – eine gewisse Überforderung in Bezug auf das, was ein derartiges Portal eigentlich an Manpower erfordern würde. Auch hier bringe/brachte ich durchaus Verständnis auf, welches allerdings an dem Punkt endete, an dem die Einseitigkeit in der Weltsicht aus meiner Perspektive zu massiv wurde. Hier ist „ideologisch“ das Stichwort und es bezieht sich nicht nur auf den Psychatrie-Artikel, der wirklich unterirdisch ist. Aber ist er wirklich ein Einzelfall? Ich habe viele Artikel oder Blogs gelesen, die nicht zuende gedacht waren und die mich dann ärgerten und bis heute ärgern. Für eine gewisse Zeit mache ich in so einem System mit und gebe Chancen, wie ich Menschen für eine gewisse Zeit eben auch Chancen gebe. Nur irgendwann reicht es dann und auch das, was ich „objektiv betrachtet“ als positiv empfinde reicht dann nicht mehr aus. Im Freitag war der Punkt erreicht, als eine naive Ostalgie und der unkritische Blick auf den Islam für mich Überhand nahm, verbunden mit einer ebenso einseitigen Moderation. Für mich war das ein Zeichen dafür, dass man lediglich eine Weltsicht zulassen möchte und deren Vertreter hofiert, wo es nur geht. Andere Haltungen wurden/werden entweder ignoriert, verächtlich gemacht oder sanktioniert – auf Basis einer ideologischen oder persönlichen Parteinahme durch die Moderation. Dabei wäre ein Korrektiv durch Blogger mit Fachkompetenz gerade im Freitag wichtig – doch wie man bemerken muss, wird dieses nicht wirklich angenommen. Den Schluss daraus muss jeder für sich persönlich ziehen, wobei ich der Meinung bin, dass ein Verbleib ebenso legitim ist, wie ein Aussteigen. Der wichtigste Punkt ist aber wohl, für sich zu erkennen, was ein derartiges Medium realistisch leisten kann und wo der Moment einsetzt, an dem man selbst seine Wünsche oder Vorstellungen hineininterpretiert – also zusätzlich zu dem, was man ohnehin interpretiert und das war/ist ja irgendwie alles.

      2. „Aber ist er wirklich ein Einzelfall?“

        Gute Frage die ich auch stelle und keine Antwort weiß. Für mich ist es ein Unterschied, ob man vorhandene Informationen unterschiedlich bewertet oder ob man Informationen weglässt und mit falschen mischt um seinen Punkt zu verkaufen.
        Was die Berichterstattung zum Islam angeht empfinde ich die Texte im Freitag meist als wohltuend im Gegensatz zu vielen alarmistischen Texten in anderen Zeitungen. Aber bei dem Thema muss ich mich deutlich mehr auf die Kompetenz anderer verlassen. Außerdem sind solche Zusammenhänge häufig komplexer als zum Beispiel die Einordnung einer medizinischen Behandlung.
        Die Moderation macht mir auch Bauchschmerzen, vor allem weil mir da die Transparenz fehlt und die Konsequenz, e2m schrieb ja auch darüber. Allerdings kann ich auch nicht alle Nase lang rumnörgeln, dann wird es ersten Unglaubwürdig und zweiten macht es keinen Spaß. Außerdem neigt man ja dazu, sich bei Themen, die einen persönlich betreffen deutlich mehr reinzuhängen.

        „Der wichtigste Punkt ist aber wohl, für sich zu erkennen, was ein derartiges Medium realistisch leisten kann und wo der Moment einsetzt, an dem man selbst seine Wünsche oder Vorstellungen hineininterpretiert – also zusätzlich zu dem, was man ohnehin interpretiert und das war/ist ja irgendwie alles.“

        Klar, im Normalfall gelingt mir das ja auch ganz gut^^ Allerdings habe ich schon den Eindruck, dass der eine oder andere Rant schon weit genug in die Redaktionsräume vorgedrungen ist. Meistens reicht das jedoch nicht für eine Kurskorrektur sondern für neue Liegen auf dem Sonnendeck.

  2. Schön und erleichternd, dass Sie die Sachlage mit klarem Blick für die Fakten zurechtgerückt haben.
    Gespannt wäre ich auf einen kritischen Artikel über die medikamentöse Differentialtherapie z. B. der Psychosen. Wie war diese lange anhaltende Hype der (neuen und teuren!) atypischen Antipsychotika zu erklären? Doch nicht auch pekuniär motiviert?
    Muss man wirklich jeder klimakterischen Frau mit melancholischen Anwandlungen ein Antidepressivum verschreiben? Sind Amitryptilin etc. wirklich in der Schmerztherapie so sinnvoll wie sie breit eingesetzt werden? In den meisten mir bekannten derartigen Fällen war kein ersthafter Versuch unternommen worden, eine Somatisierungsstörung psychotherapeutisch zu behandeln…

    Trotz viel Licht und Schatten sind wir einig, dass die medikamentöse Therapie bei schweren Psychoseformen unerlässlich ist, wer sie aus ideologischen Gründen nicht einsetzt, handelt unethisch, weil er seinem Patienten eine mögliche Hilfe NICHT anbietet.

    Ich denke, man sollte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Aber GANZ WICHTIG war es, Scientology-Gedankengut in einem prinzipiell aufgeklärten und ethisch verantwortlichen Medium scharf zu kritisieren und in die Schranken zu weisen.

    Dr. Peter Pommer

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